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Es handelt sich um das geheime elfte Kapitel des Buches, das eigentlich nur KäuferInnen lesen können. Darin findet sich der “Realitätsschock der Parteien”. Sie können das zusätzliche Kapitel hier entweder per Klick als eigenes Mini-Ebook herunterladen den gängigen Formaten epub, mobi/Kindle und PDF – oder es direkt auf dem Smartphone weiter unten auf dieser Seite lesen.

Das Geheime Elfte Kapitel
»IHR WERDET EUCH NOCH WÜNSCHEN, WIR WÄREN POLITIKVERDROSSEN«*
Wie der Realitätsschock der Parteien die Demokratie gefährdet
* Die Überschrift ist das Zitat eines Tweets des Programmierers Max von Webel vom 18. Juni 2009. Er bezog sich auf die netzbasierte Gruppenwut der Nerds, die die Piratenpartei in mehrere deutsche Landesparlamente spülte. Inzwischen steht er wohl schillernd und prophetisch für die gesamte politische Entwicklung mit und in sozialen Medien.
Im September 2019 wird bekannt, dass im hessischen Altenstadt ein 33-jähriger Neonazi zum Ortsvorsteher gewählt wurde. Der Mann ist lang jähriges Mitglied der rechtsextremen NPD und war dort unter anderem als Landesvorsitzender und Schatzmeister. Er wurde mehrfach namentlich im Extremismusbericht des hessischen Verfassungsschutzes erwähnt. Trotzdem wird er vom Ortsbeirat einstimmig gewählt – mit den Stimmen von CDU, SPD und FDP. Dem bundesweiten Aufschrei folgt eine Erklärung der Verantwortlichen, die das kaum für möglich Gehaltene schafft: Sie macht den Umstand, dass demokratische Parteien einen Neonazi gewählt haben, noch etwas schlimmer. Der CDU-Abgeordnete im Ortsbeirat bietet als Begründung für das einstimmige Ergebnis an: »Da wir keinen anderen haben – vor allem keinen Jüngeren, der sich mit Computern auskennt, der Mails verschicken kann«. Die bürgerlichen Parteien erscheinen, angefangen bei den höchsten Ämtern bis in die lokalen Niederungen hinein, von der Gegenwart überfordert.
Die Parteiendemokratie in ihrer heutigen, liberalen Form gehört zu den größten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. In Mittel- und Westeuropa, Teilen des Commonwealth und den USA garantierte sie Stabilität, Rechtsstaat und Wachstum. Millionen Menschen ließen ihr Leben im Kampf für die Freiheit, die die Demokratie versprach. Man sagte »Demokratie« und meinte das Handeln von Parteien. Diese waren so erfolgreich, weil sie sich in den Staaten des Westens gut auf die damaligen Problemlagen einstellen konnten. Im Interview mit der Zeit sagt der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi Ende September 2019: »Ich glaube, die traditionellen Parteien sind tot. Oder zumindest schwer krank. Das gilt mehr oder weniger für ganz Europa.«
Der Realitätsschock der Parteien besteht im Kern aus ihrer Hilflosigkeit im Angesicht des Weltwandels. Das Gefühl, vor allem die großen Parteien seien hilflos, wird links wie rechts, von Progressiven wie von Konservativen geteilt. Selbst Sympathisanten diagnostizieren ihren Parteien eine Starrheit, in Zeiten des explosiven Wandels vielleicht die schlechteste Voraussetzung für politische Erfolge. Die gesunde Skepsis gegenüber den Mächtigen ist einem Zweifel gewichen, ob die klassischen Parteien überhaupt noch in der Lage sind, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Diesen Zweifel spüren auch überzeugte Demokraten; das ist quer durch Europa erkennbar. Indizien sind der Niedergang der sozialdemokratischen Parteien, die Tatsache, dass mit Emmanuel Macrons »En Marche« 2017 mehrheitlich eine kaum ein Jahr alte Partei gewählt wurde, die sich selbst nicht als herkömmliche Partei, sondern als Bewegung verstand. Dass bei der Europawahl 2019 in Großbritannien die erst vier Monate zuvor gegründete Brexit-Partei die meisten Stimmen erringen konnte, mit anderthalb Mal mehr Prozentpunkten als Tories und Labour zusammen. Der Umstand, dass die aus Experten ohne höhere Parteiämter bestehende, österreichische Übergangsregierung der Bundeskanzlerin Bierlein im Jahr 2019 von vielen Bürgern als bestfunktionierende Regierung seit Jahrzehnten betrachtet wird. Oder die Tatsache, dass in Belgien nach der Wahl 2010 die Parteien über 541 Tage keine regierungsfähige Koalition zu Stande brachten und das Land trotzdem weiter funktionierte.
Die politische Unzufriedenheit resultiert unter anderem daraus, dass das Versprechen politischer Kontrolle über das Geschehen immer weniger einlösbar erscheint. Die Essenz einer demokratischen Wahl ist die Übertragung von Gestaltungsmacht an eine Partei, das implizite Versprechen, die Dinge im Griff zu haben. Aber Digitalisierung, Globalisierung und Kapitalismus haben den Parteien spürbar Macht und Möglichkeiten entzogen. Die Vernetzung als Übermetapher des 21. Jahrhunderts verdeutlicht das: In einem Netz sind die Knotenpunkte engmaschig untereinander verbunden und deshalb weniger frei in ihrer Bewegung.
Zugleich ist aber der tatsächliche Machtverlust von Politik und Parteien medial übertrieben worden. Das geschah manchmal sogar absichtsvoll. Wenn immer wieder die Schwäche der Politik beschworen wird, erscheint das Ausbleiben von wirksamer Regulierung als zwingende Konsequenz. Genau daran hatten und haben viele, vor allem ökonomische Akteure, großes Interesse. Es gibt Hinweise darauf, dass die großen Digitalkonzerne gezielt die Legende stützten, der europäischen Politik sei bei der Regulierung des Internets die Hände gebunden, weil digitale Vernetzung sich nicht an Grenzen hielte. Ohnmacht ist eine gut funktionierende, aber für Parteien höchst gefährliche Ausrede – weil sie für das genaue Gegenteil gewählt werden: Machtausübung.
Tatsächliche Hilflosigkeit und das Zerrbild prinzipieller Hilflosigkeit der Politik wirken sich negativ auf die Zustimmung zur Demokratie aus. Ein oft zitiertes Beispiel zeigt, wie schädlich die diskursive Übertreibung ist: Auf die Rettungsschirme zur Eurokrise bezogen, kündigte Angela Merkel 2011 an, »die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist, also dass sich auf den Märkten die entsprechenden Signale ergeben.« Diese Aussage wurde später in der Öffentlichkeit zugespitzt zu einem Plädoyer Merkels für eine »marktkonforme Demokratie«, obwohl es explizit um eine Wirtschaftspolitik mit dem Ziel der Beeinflussung und Beruhigung der Märkte ging. Schließlich war Kern der damaligen Krise, dass Staaten wie Griechenland auf dem Finanzierungsmarkt keine annehmbaren Kredite mehr bekamen. Merkels Aussage war nicht problematisch, weil die Bundeskanzlerin die Demokratie dem Markt unterordnen wollte, sondern weil anhand ihres Zitats die übergroße, schon lange währende Abhängigkeit demokratischer Politik von finanzwirtschaftlichen Organisationen offenbar wurde. Die mediale Verkürzung und auch Verfälschung von Merkels Aussage war problematisch, weil sie die populistische Erzählung stützte: Die da oben machen, was sie wollen, verkaufen uns, sind korrupt. Die zweifellos vorhandenen Zumutungen der politischen Realität und zahllose populistisch geführte Debatten haben in korrosiver Kombination den Glauben an Parteipolitik zerrüttet. Die zunehmende Komplexität begünstigt diesen gefährlichen Prozess.
DAS DESTRUKTIVE PRIMAT DES SPEKTAKULÄREN
Die einerseits tatsächlich vorhandene und andererseits übertrieben dargestellte Schwäche der Parteien ist zur Establishmentmüdigkeit geronnen. Kein Zufall, dass mit Donald Trump ein Kandidat zum US-Präsidenten gewählt wurde, der zugleich gegen die Demokraten und das Establishment der Republikaner antrat. Der wirksamste Wahlkampfslogan von Trump lautete: »Drain the swamp!«, legt den Sumpf trocken! Damit war der Washingtoner Klüngel gemeint, der nicht nur auf Korruption, sondern vor allem auf Komplexität und gegenseitigen Abhängigkeiten beruht. Trumps Inszenierung als Außenseiter gegen alle war eine Erzählung der vermeintlichen Unabhängigkeit. Sie fand eine Entsprechung in seinem plakativ vorgezeigten Reichtum: Wer so reich ist, so das etwas schlichte, aber doch nachvollziehbare Kalkül der Wähler, habe keine Bestechung mehr nötig. Wer je normale amerikanische Bürger über »Washington« hat schimpfen hören, konnte dabei die Basis des Realitätsschocks der Parteien erleben – die Geringschätzung des Establishments. Dieser Nährboden des Populismus scheint sich zwischen den westlichen Industrieländern kaum zu unterscheiden. Es handelt sich um eine massive Gefahr für die liberale Demokratie. Verachtungsvolle Erzählungen über »die da oben« sind salonfähiger als je zuvor, und sie werden über das gesamte politische Spektrum verbreitet. Es ist sehr schwer geworden, harsche, aber legitime Kritik an der professionellen Politik von unzulässigen Pauschalisierungen zu unterscheiden. Je größer und existenzieller die Themen, um so pauschaler und unerbittlicher die Generalverdammung.
Wer überzeugt ist, dass liberale Demokratie ohnehin nur ein schlechtes Schauspiel ist, wählt bedenkenlos die unterhaltsamste Option. Das gilt keinesfalls nur für rechts, Satirepolitiker erfüllen für Linke eine vergleichbare Funktion, indem sie als wählbares Symbol der Geringschätzung der Politik in der liberalen Demokratie fungieren. Die Wahl von Donald Trump und Boris Johnson ist ebenso wie die Wahl von Martin Sonneborn und seiner »Partei« ein Ausweis der privilegienblinden Privilegiertheit ihrer Wähler. Man muss es sich buchstäblich leisten können, die eigene Stimme der Show zu opfern. Trump und Johnson haben sich zwar als Demokratieverächter erwiesen, aber sie sind Garanten des Spektakels, weil sie sich auf unterhaltsame Weise nicht um die Fakten scheren. Sie produzieren immer neue Aufreger, die kaum noch mit klassischen Maßstäben der Parteipolitik gemessen werden können und sich durch Absurdität jeder Diskutierbarkeit entziehen. Auf Vorschläge von Donald Trump, Grönland zu kaufen oder Atombomben auf Wirbelstürme zu werfen, lässt sich nicht mehr sinnvoll reagieren. Parteien dienen in der politischen Debatte auch als Mäßigungsinstrument, bei der Binnenpluralismus eine zu extreme Politik verhindern soll. Aber solche Parteifunktionen stoßen durch derartigen Aberwitz an ihre Grenzen, und das ist Absicht. So werden andere, missliebige Diskussionen aus der öffentlichen Aufmerksamkeit gedrängt, weil die großen, redaktionellen Medien sich regelrecht hacken lassen, sie sind nicht in der Lage, solche Nachrichten auszublenden. Und gleichzeitig wirken die vielen Lügen der Demokratieverächter nur noch wie Beiwerk zum Feuerwerk der spektakulären Worte. In seiner Brandschrift »Gesellschaft des Spektakels« schreibt Guy Debord passenderweise schon 1967: »Das ganze Leben der Gesellschaften (…) erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen. (…) Die Lüge, die nicht mehr widerlegt wird, wird zum Wahnsinn.« In gewisser Weise hat sich das sehr erfolgreiche System der Parteiendemokratie (beinahe) kaputtgesiegt. Es konnte angesichts der immer dringender werdenden Herausforderungen durch den immer schnelleren Wandel der Welt nicht mehr in zuvor gewohnter Weise den Eindruck vermitteln, das politische Geschehen unter Kontrolle zu haben. Der jahrzehntelange Wettstreit der Parteien lässt sich Verdichten auf die Behauptung: Wir können gut regieren, unsere Gegner können es nicht. Implizit wurde damit transportiert, dass die Kontrollierbarkeit des Geschehens allein an den Fähigkeiten der jeweiligen Partei liege. Diese Illusion lässt sich inzwischen höchstens bis zum nächsten Realitätsschock aufrecht erhalten.Die Einzelheiten mögen sich in jedem Land unterscheiden, aber die übergeordnete Erzählung ist in den westlichen Industrieländern ähnlich: Die traditionellen Parteien haben sich von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung gelöst. Diese Empfindung hat mehr als nur einen wahren Kern. Sie ist eine direkte Folge der Zunahme der Komplexität der Welt. Denn je komplexer Strukturen werden, desto abstrakter sind die Maßnahmen zu ihrer Steuerung. Diese Gesetzmäßigkeit gehört zu den zentralen Problemen der EU, die in Europa den populistischen Bewegungen als Sinnbild für bürokratische Alltagsferne dient. Politik in superkomplexen Systemen eignet sich kaum für plakative Vermarktung, gleichzeitig lässt sie sich ungleich schwerer erklären. Deshalb wird Symbolpolitik wichtiger. Ob eine Partei gute oder schlechte Politik macht, wird in der medialen Öffentlichkeit in emotionaler Weise anhand von Einzelbeispielen und Symbolen entschieden. Der Er- folg der Brexit-Partei bei den Europawahlen beruhte darauf – sie inszenierte sich als Symbol des Austritts aus der EU, hatte buchstäblich keine anderen politischen Ansätze und konnte doch über 30 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen.
Die Fokussierung auf Deutschland erlaubt, sich dem Realitätsschock der Parteien im Detail zu nähern. Drei Entwicklungen stechen dabei hervor:
- die erste, langweilige, resultiert aus dem Clash vieler klassischer Institutionen mit der veränderten Gesellschaft im 21. Jahrhundert
- die zweite, etwas weniger langweilige besteht aus der Krise der linken Parteien
- die dritte und zweifellos interessanteste ist die Krise der konservativen Parteien.
Natürlich sind die Veränderungen komplexer, aber diese drei Phänomene verdeutlichen den umfassenden Wandel.
DIE KRISE DER INSTITUTIONEN
Der amerikanische Digitalphilosoph Clay Shirky beobachtet zu Beginn des 21. Jahrhunderts: »Institutionen neigen dazu, die Probleme zu erhalten, zu deren Lösung sie geschaffen wurden.« Gemünzt ist das auf klassische Institutionen wie das Militär, NGOs oder Gefängnisse. Letztere hatten in den USA über Jahrzehnte Gesetzesverschärfungen herbeilobbyiert, um eine höhere Auslastung zu erreichen. In den USA sind heute mehr Menschen in Gefängnissen als irgendwo anders auf der Welt, sowohl in absoluten wie auch in bevölkerungsrelativen Zahlen. Ein extremes Beispiel, aber etwas abgewandelt lässt sich das Shirky-Prinzip auch auf Parteien anwenden. Denn in einer liberalen Demokratie dienen Parteien nicht nur der Machtausübung, sondern auch der Partizipation. Parteien trugen im 20. Jahrhundert dazu bei, dass sich ganz gewöhnliche Menschen an der demokratischen Willensbildung beteiligen konnten. Mit der digitalen Vernetzung aber hat sich das Angebot für politische Partizipation völlig verändert. Wenn junge Idealisten vor fünfzig Jahren die Welt verändern wollten, gingen sie zu den Jusos. Heute gehen sie zu Fridays for Future. Der Unterschied mag oberflächlich betrachtet nicht besonders groß scheinen, tatsächlich aber stehen sich hier zwei sehr unterschiedliche Organisationsformen gegenüber: die Institution und das Netzwerk. Beide haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile – aber man muss nicht besonders lange grübeln, welche Form von jüngeren Generationen derzeit für attraktiver gehalten wird. Institutionelle Organisationen sind meist hierarchisch geprägt, sie belohnen lange Zugehörigkeit, Loyalität und geschicktes Taktieren. Die pyramidenförmige Hierarchie färbt auf ihre Protagonisten ab, wie man an den deutschen Sozialdemokraten erkennt, wo »der ist jetzt einfach mal an der Reihe« ein ernsthaft vorgebrachtes Argument für die Wahl in ein Amt sein kann. In einer älter werdenden Gesellschaft sind solche Mechanismen beinahe eine Garantie für den strukturellen Ausschluss jüngerer Kräfte und für die Geringschätzung des Wandels. Wer Jahrzehnte in seinen Aufstieg investiert hat, neigt kaum dazu, die Strukturen grundsätzlich ändern zu wollen, bevor er selbst die Früchte der langjährigen Arbeit ernten kann – ein selbsterhaltendes, selbstverstarrendes System. Der noch so begeisterte Nachwuchs ernüchtert rasch, wenn brillante Ideen, große Energie oder kluge Projektarbeit weniger entscheidend sind als Sitzfleisch.
Das Prinzip Netzwerk dagegen belohnt die Fähigkeit, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Geschwindigkeit und plakatives Engagement. Auch diese Organisationsform bevorzugt strukturell einen bestimmten Typus, in Netzwerken sind zum Beispiel eher Menschen mit einem gewissen Selbstvermarktungstalent erfolgreich. Verantwortung wird dort situativer verteilt, was ermöglicht, sich in Netzwerken schneller und tiefgreifender zu beteiligen als in Institutionen. Allerdings wird die Verantwortung auch schneller wieder abgegeben, was auf Kosten der Zuverlässigkeit gehen kann. Netzwerke sind attraktiv für Leute, die schnell Bestätigung und Wirksamkeit ihrer Aktivitäten spüren wollen. Sie eignen sich durch ihre hohe Geschwindigkeit und ihr großes Mobilisierungspotenzial besonders für spontane oder kurzfristig geplante Vorhaben. Dafür ist es deutlich schwieriger, mit netzwerkartigen Organisationsformen Durchhaltevermögen zu beweisen.
Das vielleicht sichtbarste Zeichen der Krise der Institutionen im Bereich der klassischen Parteien ist der Aufstieg der Clowns und Satiriker in der Politik. Mit der deutschen »PARTEI«, einem Projekt des Satiremagazins Titanic, ist schon 2014 eine Satirepartei ins EU-Parlament gewählt worden. 2019 gelang ihr die Wiederwahl, die Zahl ihrer Ab- geordneten hat sich sogar auf zwei verdoppelt. Bei der Europawahl erreichte die »PARTEI« bei Jung- und Erstwählern (18–24) acht Prozent, die CDU lag bei 8,8, die SPD bei 8,5, die FDP bei acht Prozent, AfD und Linke lagen sogar noch hinter der »PARTEI«. Fast zeitgleich wurde ein ukrainischer Comedian Regierungschef seines Landes. In Italien ist seit 2018 die Partei »Fünf Sterne« in wechselnden Koalitionen an der Macht, die von einem Kabarettisten gegründet wurde. Bereits nach der Finanzkrise 2008, die Island besonders schwer traf, wählten die Bewohner der Hauptstadt Reykjavik einen Anarcho-Clown zum Bürgermeister. In allen Fällen zehrten die Satiriker von der Parteimüdigkeit derjenigen, die ausreichend humanistisch orientiert waren, um keine rechten Protestparteien zu wählen. Die leicht zynische Logik dahinter: Wenn Politik und Satire durch die Folgen des Realitätsschocks ohnehin kaum noch zu unterscheiden sind, dann lässt sich kein besseres Symbol für die Unzufriedenheit mit klassischen Parteien finden als die Wahl einer Satirepartei. Was im 20. Jahrhundert der frustrierte Nichtwähler war, ist im 21. Jahrhundert der spöttische Satirewähler.
Die Protagonisten von Satireparteien erscheinen ihren Fans auch nicht wesentlich unfähiger als klassische Politiker, aber sind dabei immerhin witzig. Das ist auch die Verbindung zu einem anderen Symptom des Realitätsschocks der Parteien, dem Aufstieg der charismatischen bis spektakulären Einzelakteure. Wenn Politik als große Inszenierung begriffen wird, dann liegt die Beurteilung der Wähler nach Bühnen- und Medienfähigkeit sogar nahe. Soziale Medien sind stark persönlichkeitsgetrieben und stützen deshalb diesen Trend – auch hier offenbart sich eine Schwäche der Institutionen im 21. Jahrhundert, sie sind in den neuen Mediensphären weniger öffentlichkeitswirksam als Personen.
Gefühlsmaschinen wie Facebook und Twitter haben öffentliche, politische Debatten emotionaler werden lassen. Personen waren in der Politik nie unwichtig, aber im beginnenden 21. Jahrhundert haben sie in ihrer politischen Bedeutung Parteien zurückgedrängt (im Vergleich zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts). Nicht nur Trump ist dafür ein Beleg. Der Erfolg der französischen Neupartei »En Marche« lag weitgehend in der Zugkraft Macrons begründet. In Deutschland hängt der Erfolg der CDU so umfassend an der Person Angela Merkel, dass eine demokratische Furcht vor der Nach-Merkel-Ära zu spüren ist. Was, wenn sich mit Merkel als populäre und zugkräftige Figur auch Scharen konservativer und liberaler Wähler von der Union abwenden und einfach nicht mehr wählen gehen? Und die Schwäche der SPD rührt auch daher, dass viele ihrer Spitzenkräfte das Charisma einer doppelseitig ausgedruckten Tagesordnung versprühten. Der Erfolg der FDP bei der Bundestagswahl 2017 lag in der glänzenden Medieninszenierung des Vorsitzenden Christian Lindner begründet. Der Aufstieg der Grünen zur neuen Volkspartei links der Mitte hing nicht nur mit dem Realitätsschock des Klimas im Jahr 2018 zusammen, sondern auch mit der fotogenen und mediengängigen Doppelspitze aus Annalena Baerbock und Robert Habeck. Seit den 1990ern diagnostizieren Politologen in Deutschland eine Abnahme der Stammwähler einer Partei und die Zunahme der Wechselwähler. Auch das deutet auf die zunehmende Relevanz von Personen und geringeres Vertrauen in die Institution Partei hin.
Vom Regierungsgeschäft im weiteren Sinn abgesehen, haben Parteien in repräsentativen Demokratien für die Wählenden vor allem zwei Funktionen: Komplexitätsreduktion und Vertrauensbildung. Der sehr komplexe, politische Prozess wird auf einige Symbole, konkrete Positionen und Wertvorstellungen reduziert. Den Raum dazwischen füllen optimistische Wählende mit der Hoffnung, es werde im Zweifel schon im eigenen Sinne entschieden. Wer grün wählt, ahnt oder hofft, dass die vielen Einzelentscheidungen im Politalltag eher im Sinne des Umweltschutzes, der Weltoffenheit, der bürgerlich-liberalen Überzeugungen getroffen werden. Wer links wählt, erwartet tendenziell Entscheidungen für mehr soziale Gerechtigkeit, Konservative möchten Verlässlichkeit, Bewahrung und Marktwirtschaft in den Vordergrund gestellt sehen. In die Details haben die allermeisten Wählenden wenig Einblick, viele wollen das auch gar nicht. Sie wollen eher das Gefühl haben, die gewählte Partei verfolgt ihr komplexes, politisches Geschäft im programmatisch angekündigten Sinn. Deshalb ist Vertrauen so zentral, weil es die Fragen beantwortet: Wird auch dann noch in meinem Sinn entschieden, wenn meine Stimme abgegeben ist? Oder wenn die Politik außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung in Hinterzimmern verhandelt wird?
Soweit, so simpel, fast banal. Leider kann man das 21. Jahrhundert als Frontalangriffauf die beiden Parteifunktionen Komplexitätsreduktion und Vertrauensbildung betrachten. Mit der immer weiter zunehmenden Komplexität der Welt, wiederum durch Globalisierung und Digitalisierung, wird das Geschäft der Komplexitätsreduktion schwieriger. Gleichzeitig wird für eine einleuchtende, aber noch korrekte Vereinfachung der Zusammenhänge ein immer tieferes Verständnis der Materie notwendig. Dieses Grundverständnis wird den klassischen Parteien und ihren Führungsfiguren abgesprochen. Auch deshalb, weil die Sprache der Parteipolitik aussagearm und erstarrt erscheint. Liberale Demokratien bestehen im politischen Alltag aus Verhandlungen, Interessenausgleichen und Kompromissen. Übergroße Klarheit und die Betonung einer eindeutigen Position in der Kommunikation erschweren es der Politik deshalb, das Geschehen als Erfolg darzustellen. Die Sprache des Kompromisses ist erst recht in Verbindung mit politischem Verwaltungslingo wenig attraktiv. Es ist für Parteien nicht einfach, die Balance aus erwünschter politischer Klarheit und notwendig komplexem Handeln zu bewahren. Und es ist im 21. Jahrhundert noch schwerer geworden.
Denn die zweite Funktion, die Vertrauensbildung, hat durch den Transparenzdruck des Internet und die gestiegenen Ansprüche der politisch Interessierten gelitten. Die Taktung, mit der über Politik berichtet wird, ist mit dem Netz sehr viel höher geworden. Diese engmaschige, öffentliche Beobachtung erzeugt fast automatisch Enttäuschung, je häufiger man sich äußern muss, um so größer die Chance, Unterschiede zur eigenen politischen Haltung zu entdecken. Und das Vertrauen wird geringer, je offensichtlicher die Gegenwartskompetenz der Parteien schwindet. Nicht, dass früher alles besser gewesen wäre, aber zumindest Parteien hatten früher ein besseres Gespür für die Gegenwart. Weil sie sich bis jetzt – wie die meisten Institutionen – ziemlich erfolgreich einem notwendigen Wandel widersetzen, sind klassische Parteien in einen Teufelskreis geraten. Sowohl auf der konservativen wie auch auf der linken Seite.
DIE KRISE DER LINKEN PARTEIEN
Deutschland ist ein konservatives Land, in den 38 Jahren zwischen 1982 und 2020 war die Union 31 Jahre lang die führende Regierungspartei. Selbst die beiden letzten Kanzler der SPD, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, waren strukturell konservativ. Sie konnten das Amt einnehmen, weil sie einerseits konservative Wähler bis zu einem gewissen Grad von sich überzeugen konnten. Und weil sie andererseits den Unionswählern als nicht so schlimm erschienen, dass diese zur Verhinderung massenhaft an die Wahlurnen geströmt wären. Schmidt wurde noch während seiner Amtszeit verspottet als »bester Kanzler, den die CDU je hatte«.
Auch die Krise der linken Parteien ist selbstredend nicht monokausal. Aber eine wichtige Spur ergibt sich daraus, dass sie in Deutschland kaum von der zunehmenden sozialen Ungerechtigkeit, den Herausforderungen der Globalisierung oder der Finanzkrise profitieren konnten. Bei der SPD hätte man argumentieren können, dass mit der Einführung von Hartz IV ihre politische Glaubwürdigkeit stark gelitten hat. Das ist auch die stehende Rede vieler Altlinker, weshalb sie sich nicht mehr in der Lage sehen, sozialdemokratisch zu wählen. Gegen diese These spricht aber, dass die Linkspartei nur temporär profitieren konnte, obwohl sie sich stets lautstark gegen die Hartz-IV-Politik ausgesprochen hat.
Ein Teil der Schwäche der linken Parteien lässt sich mit dem Konzept des Philosophen Ernst Bloch erklären, das bereits im Kapitel »Rechtsruck« dieses Buchs beschrieben wird: die Ungleichzeitigkeit. In einer Zeit des umfassenden Wandels ist die Linke noch weiter aufgefächert als ohnehin schon. Das liegt daran, dass linke Politik stets danach strebt, eine Politik zur Lösung der größten Probleme zu sein. Dazu gehört aber, dass man die Probleme hierarchisieren muss. Das ist im 21. Jahrhundert schwerer, weil die Globalisierung den Horizont auf die ganze Welt ausgedehnt hat, neue, drängende Problemkomplexe dazugekommen sind und durch soziale Medien marginalisierte Gruppen lautstärker auf sich und ihre spezifischen Ungerechtigkeiten aufmerksam machen können. Linke Strömungen waren untereinander noch nie überragend kollegial, im Spanischen Bürgerkrieg kämpften Anarchisten und Kommunisten zwar Seite an Seite gegen Francos Faschisten, zwischendurch metzelten sie sich jedoch gegenseitig nieder (»Maiereignisse«). Heute aber sind die verschiedenen linken Definitionen der Weltprobleme so weit voneinander entfernt wie selten zuvor.
An einem Ende finden sich die progressiven, sich weltoffen fühlenden, linksliberalen Eliten, die ihr Gerechtigkeitsempfinden oft aus der Position der eigenen Unabhängigkeit schöpfen und ständig weiterentwickeln, aber nicht besonders kapitalismuskritisch daherkommen. Am anderen Ende stehen die zuerst auf soziale Gerechtigkeit zielenden Linksnationalen, die vielleicht die Systemfrage stellen, aber unter internationaler Solidarität brüderliche Beziehungen zu Linken in anderen Ländern verstehen. Jedenfalls solange diese ebendort auch bleiben. Im 20. Jahrhundert schaffte es die Sozialdemokratie zeitweise trotz dieser großen Unterschiedlichkeit eine politische Erzählung zu erzeugen, die beide miteinander verband. Das war einfacher, weil diese Erzählung faktisch nur national funktionieren musste.
Im 21. Jahrhundert sieht sich die linke Avantgarde eher globalen Zielen verbunden als der konkreten Solidarität mit regionalen Arbeitern. Ihre Entdeckung neuer marginalisierter Gruppen hat auch dazu geführt, schon länger Benachteiligte weniger zu beachten. Die Fixierung auf das Klima als Alles-oder-nichts-Thema hat bei einem Teil zu einer Form von linker Egozentrik geführt. Urban geprägte Gruppen fordern etwa, das Autofahren für den Klimaschutz drastisch zu verteuern oder gleich abzuschaffen und vergessen, dass ein großer Teil der Landbevölkerung ohne Automobil empfindlich in ihrem Lebenswandel und sogar ihrer Freiheit eingeschränkt ist.
Unter den Linken dagegen, die zuerst für soziale Gerechtigkeit im eigenen Land kämpfen, hat sich eine Abwehrhaltung gegen verschiedene Formen des Internationalismus gebildet. Vom Freihandel über die EU bis zur Zuwanderung finden sich unterschiedliche Intensitäten der Ablehnung. Aus manchen Linksnationalisten sind sogar Rechtsnationalisten geworden, die als Querfront unter Verkennung des wichtigsten linken Werts der Gleichheit aller Menschen die sozialen Fragen durch Ausschluss von Nichtdeutschen klären wollen. Der französische Philosoph Didier Eribon hatte in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« schon 2009 die Beobachtung beschrieben, dass viele französische Arbeiter von der sozialistischen SP zum rechtsextremen Front National übergewechselt waren. Dieses Phänomen ließ sich in Deutschland in abgemilderter Form bei der Bundestagswahl 2017 beobachten. Im prozentualen Vergleich zur eigenen Gesamtwählerschaft kam der größte Zuwachs der rechtsextremen AfD von der Linkspartei. Das hängt auch da- mit zusammen, dass klassische linke Parolen wie »Hoch die internationale Solidarität« in weniger globalisierten Zeiten kaum Veränderungen im Alltag mit sich brachten. Wenn die Globalisierung dann in der Gestalt einer Million Flüchtlinge an die Tür klopft, scheinen nicht mehr alle Linken restlos von internationalen Solidaritätskonzepten überzeugt.
Der Niedergang der SPD zeugt von der Schwierigkeit der Linken, den Raum zwischen diesen Polen zu füllen. Im Jahr 1998 erreichte sie bei Umfragen noch Werte um 45 Prozent, berührte im Verlauf der Regierung Schröder mehrfach die 25-Prozentmarke, bäumte sich durch den furiosen Wahlkampf 2005 bis auf 34 Prozent auf und taumelte danach über 23 Prozent (Wahl 2009), 25 Prozent (Wahl 2013), 20 Prozent (Wahl 2017) und 15 Prozent (EU-Wahl 2019) bis auf zwölf Prozent im Herbst 2019. Die Große Koalition, die nur noch aus politischer Gewohnheit so heißt, hat die SPD ruiniert. Durch die langen Jahre als Juniorpartner von Angela Merkel ist fast jede nicht staatstragende Faser der SPD wegregiert worden. Übrig geblieben ist etwas, das sich für die Partei selbst von innen anfühlen mag wie Vernunft. Von außen sieht diese Vernunft aus wie Angst – vor jeder Form eigener Courage.
Die deutsche Sozialdemokratie hat sich nach Gerhard Schröder als Partei der Vernunft präsentiert und noch stets »das Richtige« getan. Bei der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 war diese Ausrichtung in konzentrierter Form erkennbar, ebenso wie ihre Wirkung. Noch am Wahlabend versprach der für damalige Verhältnisse mit 20 Prozent bitter abgestrafte Martin Schulz, auf überhaupt gar keinen Fall in eine erneute Große Koalition einzutreten. Dann platzten die Verhandlungen zwischen CDU, FDP und Grünen, Bundespräsident Steinmeier (SPD) redete seiner Parteiführung ins Gewissen und die SPD tat das, was ihrem Verständnis staatsbürgerlicher Pflicht am nächsten kam. In eine erneute, dritte Große Koalition in zwölf Jahren einzutreten, mag aus Sicht der Politik des 20. Jahrhunderts eine Vernunftentscheidung gewesen sein. Damals konnte man nämlich von der Unersetzbarkeit der SPD im Parteigefüge Deutschlands ausgehen, was eine ziemlich gute Voraussetzung ist, damit die Wählerschaft einer Partei noch alles verzeiht. Im politisch unübersichtlichen 21. Jahrhundert aber war das der Grund für den letzten Sturz von zwanzig auf zwölf Prozent.
In liberalen Demokratien werden notwendige Koalitionskompromisse manchmal als Wortbruch empfunden. Plakative Kommunikation der eigenen Pläne erscheint im Wahlkampf notwendig, kann jedoch rasch zur Falle werden. Die SPD hat sich oft selbst ein Bein gestellt und rote Linien gezogen, die später wieder einkassiert werden mussten. Aber in einen so großen Wortbruch wie nach der Bundestagswahl 2017 mit offenen Augen wie in ein riesiges, aufgestelltes Messer hineinzulaufen und das mit Vernunft und Pflichtgefühl zu begründen, das war selbst begeisterten Sozialdemokraten zu viel. Diese große Flexibilität des Rückgrats bewies, dass jeder linke Kampfgeist, jede sozialdemokratische Aufrichtigkeit, jedes politische Symbol im Zweifel der vermeintlichen Vernunft geopfert wird.
Verstärkt wird der Niedergang durch das Personal, oder besser: durch den Auswahlprozess des Spitzenpersonals. Die SPD hat eine Hierarchie aufgebaut, die bei der Auswahl ihrer Führungsfiguren eine wesentliche Eigenschaft ausblendet: öffentliche Sympathie. Medial vermittelte Sympathie ist dabei noch eine besondere Spielart, wie man bei Andrea Nahles, der Kurzzeitvorsitzenden der SPD, von 2018 bis 2019 beobachten konnte. Während sie im direkten Kontakt in der Fußgängerzone durchaus Anerkennung fand und Geschick bewies, konnte man ihr massenmedial geprägtes Bild in der Öffentlichkeit nicht mit dem Wort »sympathisch« beschreiben. Vorsichtig gesagt. Neben einer weitverbreiteten Misogynie trug das dazu bei, dass Nahles’ Versuche der volksnahen Sympathiegewinnung in den Medien zu plump daherkamen. Sympathie ist eine Ressource, die nicht nur ungerecht verteilt ist zwischen den Menschen, sondern sich auch nur schwierig beeinflussen lässt. Die mediale Anmutung von Sympathie und Kompetenz, jeweils auf die eigenen Wähler zugeschnitten, ist im Dauerfeuer der Aufmerksamkeit aber wahlentscheidend.
Und es ist ja nicht nur die SPD, die als bitteres Symbol des linken Niedergangs taugt. Beinahe ist es ein Allgemeinplatz, dass eigentlich die Ära der Globalisierung und der Digitalisierung eine Zeit sein müsste, die nach linker Politik, nach sozialer Gerechtigkeit und neuen Ansätzen zur Umverteilung dürstet. Das schlägt sich bloß nicht in den Wahlergebnissen nieder, weder bei der SPD noch bei der Linkspartei oder anderen linken Optionen. Nicht einmal linke Bewegungen, die etwa in Spanien ein soziales Momentum nachhaltig nutzten, konnten in Deutschland über etwas Mediengetöse hinaus eine Wirkung erzielen. Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung #aufstehen war der politische Rohrkrepierer des Jahres 2018, der im Herbst 2019 ein Jahr nach der Gründung in den sozialen Debatten des Landes nicht die geringste Rolle spielt. Selbst die Stärke der Grünen setzt erst ein, als sie sich konservativer gaben als je zuvor. Als Robert Habeck konservative Begriffe wie »Heimat« grün besetzt. Als mit Winfried Kretschmann ein Mann sein Können als erster und einziger grüner Ministerpräsident beweisen hatte, der mit seinen Überzeugungen in kaum einem CDU-Landesverband wirklich anecken würde. Im Gegenteil ist Kretschmanns Erfolgsrezept, für baden-württembergische knallkonservative Bürger wählbar zu erscheinen.
Es wäre unfair, in den Misserfolgen der Linken allein einen Beweis für die Konservativität Deutschlands zu sehen. Denn ein substantieller Teil der Krise der linken Parteien ist ihre Vermarktungsschwäche. Die Linkspartei hat Jahre verstreichen lassen, in denen sie mit Grabenkämpfen beschäftigt schien, statt große, linke Konzepte für das 21. Jahrhundert zu erarbeiten. Sie hat nie eine breit nachvoll- ziehbare, modern wirkende Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung formuliert. Die SPD dagegen versuchte sich gegen die Abwärtsspirale zu stemmen, in dem sie einfach Politik machte. Erfolg war selbst innerhalb der großen Koalition erkennbar, wurde aber schlecht vermarktet. Eine Erfolgsbotschaft wie ein selbstgestelltes Bein: Wenn unter Merkel also sozialdemokratische Politik möglich ist, warum sollte man dann etwas ändern? Die SPD antwortete auf eine Krise der Sozialdemokratie in einer hochemotionalen Epoche mit der sachpolitischsten Sachpolitik aller Zeiten. Und das, während Merkel die Union im Vergleich zu den 1990er Jahren stark liberalisiert hat, was den Schmerz einer unionsgeführten Regierung und damit die Motivation zum Urnengang für viele Sozis verringerte.
Der Linkspartei und der Sozialdemokratie gemeinsam ist die Abwesenheit einer linken Vision. Einer Vision, die mit einem kraftvollen Satz das Bild einer Zukunft zeichnet, auf das man hinarbeiten möchte. Wie sieht eine gerechte Welt in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung aus? Wie bekommt man die verantwortungslosen, aggressiven Ausläufer des Kapitalismus in den Griff? Welche konkrete Utopie macht die EU wieder attraktiv? Es mag auf diese Fragen kleinteilige Einzelantworten der linken Parteien geben, aber eine linke Vision funktioniert über ihre Leuchtkraft, die alle Verschiedenheiten überstrahlt. Dahinter verbirgt sich auch die Erklärung des Erfolges der Grünen, die trotz ihrer Offenheit den Konservativen gegenüber als linke Partei gelten müssen. Denn die Grünen haben als einzige linke Partei eine einfache, eingängige Vision: die Rettung der Welt durch Rettung der Umwelt.
DIE KRISE DER KONSERVATIVEN PARTEIEN
Als Angela Merkel im Mai 2019 an der US-Eliteuniversität ihre 16. Ehrendoktorwürde verliehen bekommt, wird sie wenig überraschend in der Laudatio mit Lob überschüttet. Erstaunlich ist aber, wofür sie gerühmt wird. Denn Merkel wird für ihr Lebenswerk geehrt, für das drei Beispiele genannt werden: die Ehe für alle, der Mindestlohn und der Atomausstieg. Aus liberaler, amerikanischer Sicht sind diese Fortschritte in Merkels Amtszeit gefallen. Faktisch aber hat Angela Merkel gegen alle drei politischen Unterfangen gekämpft, bis es aus jeweils unterschiedlichen Gründen nicht mehr anders ging. Bei der Ehe für alle verhaspelte sie sich in einem Interview, öffnete mit ihren Worten eine Abstimmungsmöglichkeit und das Parlament nutzte ihre Unachtsamkeit aus. Der Mindestlohn wurde von der SPD in einem Anfall von Kampfgeist durchgeprügelt. Und der Atomausstieg ist nichts mehr als eine Merkel’sche Panikreaktion auf Fukushima und die damaligen Umfrageerfolge der Grünen. Merkels Lebenswerk wider Willen ist ein wunderbares Symbol für den Konservatismus in Deutschland. Deutsche Konservative wehren sich solange gegen überfällige Veränderungen, bis sie vergessen haben warum oder es gar nicht mehr anders geht, weil die Realität andere Pläne hat als die Union.
Konservatismus ist die Kunst, sich selbst mit der Welt zu verwechseln. Dazu gehört eine gewisse Portion Egozentrik, aber ganz ohne eine gewisse Selbstzufriedenheit würde eine Gesellschaft wahrscheinlich auseinanderfallen. In der Folge ergibt sich eine Politik für den vermeintlichen konservativen Durchschnittswähler, den stellvertretenden Abteilungsleiter, Ende vierzig, zweieinhalb Kinder, noch nicht geschieden, noch nicht abbezahltes Reihenhaus, noch im- mer Pendler mit dem Diesel-Kombi, warum denn nicht, mein Gott, funktioniert doch noch? Die Krise des Konservatismus in Deutschland rührt auch daher, dass es im Verhältnis immer weniger solcher Wähler gibt. Schon deshalb war Merkels Modernisierungskurs der CDU alternativlos, wenn er auch bei den besonders hartnäckigen Wandelfeinden einen Sog Richtung AfD hat entstehen lassen.
Zur konservativen Seele gehört in Deutschland eine Spur Ausgrenzung der Menschen, die sich außerhalb der Leitplanken der tradierten Nationalnormalität bewegen. Noch in den 1980ern reichte es aus, als Mann lange Haare zu tragen, um als Gammler diffamiert oder gar auf einem Dorffest verprügelt zu werden. Ganz zu schweigen von den rassistischen, homophoben oder sexistischen Ausfällen, die über Jahrzehnte eben nicht nur von Rechtsextremen ausgingen, sondern ebenso aus der selbsterklärten Mitte kamen. Von den sich für normal Haltenden. Auch für solche Gestalten wollte der deutsche Konservatismus lange attraktiv bleiben, noch Anfang des Jahrtausends führte der hessische CDU-Chef Roland Koch einen Wahlkampf, der offen ausländerfeindlich war und mit rassistischen Ressentiments operierte. Sowohl von führenden AfD-Funktionären wie auch von linken Kommentatoren wird behauptet, die AfD sei Fleisch vom Fleische der CDU. Das ist weniger falsch, als die Merkel-CDU es gern sehen würde. Die gesellschaftliche Liberalisierung und Diversifizierung hat einem zuvor demokratisch gesinnten Teil der Konservativen die Scheu vor der Wahl Rechtsextremer genommen. In der Kohl-CDU konnten sich auch Leute wie Alfred Dregger wohlfühlen und sogar Karriere machen, von 1982 bis 1991 war er CDU-Fraktionsvorsitzender von Helmut Kohls Gnaden. Dregger erklärte, der Angriff Hitlers auf die Sowjetunion sei nicht grundsätzlich falsch gewesen. Er hielt den Begriff »Befreiung« durch die Alliierten für einseitig und beschimpfte eine Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht als »Angriff auf Deutschland«. Solche Äußerungen würden heute wahrscheinlich selbst in der AfD kritisch kommentiert, wenn auch nur aus PR-Gründen. Aber es lässt erkennen, dass vieles, was heute rechts der Union stattfindet, im 20. Jahrhundert noch Teil der Partei war. Es ist aller Ehren wert, dass zu Merkels Modernisierung auch eine Abscheidung subkutan rechter Strömungen gehörte. Wählerpotenzial hat es trotzdem gekostet, auch wenn es mangels einer rechten Partei mit bürgerlichem Anschein über Jahre unbemerkt blieb.
Dazu kommt die ganz grundsätzliche Schwierigkeit, in Zeiten des Wandels konservativ zu bleiben. Dieses Problem der Union war in Deutschland lange kaum sichtbar, weil es von Angela Merkels Erfolgspragmatismus überdeckt wurde. »Sie kennen mich« war ihre 2013 im Wahlkampf geäußerte Siegesformel. Aber dahinter bröckelt und brodelt es, weil Merkels Modernisierung der Union zwar notwendig gewesen sein mag, aber eine enorme Schwäche offenbarte: Konservatismus erfordert in einer von Veränderung geprägten Welt ständige Rechtfertigung. Das ist eine Schwäche, weil die Programmatik der Union zum großen Teil aus wenig ideologischer Rechtfertigungsabwehr besteht. Man wählt die Normalität, die keiner weiteren Erklärung bedarf und schon gar keiner Entschuldigung. Substantielle Veränderungen sind für die Union so gefährlich, weil sie die Selbstzufriedenheit ihrer Stammklientel stören. Wir brauchen keine große Veränderung, es ist doch alles in Ordnung, sagen die Wähler, und meinen damit, dass für sie selbst alles in Ordnung ist. Leichte Anpassungen müssen genügen, das Klima lässt sich doch nun wirklich mit der Pendler- pauschale in Schach halten. Das Geheimnis der CDU war jahrzehntelang das Versprechen für ihre Wähler, am Tag nach der Wahl Politik für vier Jahre vergessen zu können; das größte deutsche Vermögen ist das Beharrungsvermögen. Die Union eignete sich so gut für letztlich unpolitische Menschen, weil sie an die Stelle von Weltverbesserungsallüren einfach Stabilität, Zuverlässigkeit und Nichtwandel setzte. Das klingt in einem Land, das historisch betrachtet mit engagierter Politik keine überragend guten Erfahrungen gemacht hat, sogar nach einem akzeptablen Deal.
Konservative wählen konservativ, damit jemand die Politik im Griff hat, der keine unangenehmen Überraschungen zulässt. Keine guten Voraussetzungen für das 21. Jahrhundert, das kurz nach seinem Beginn gegen 2015 (vgl. Einleitung) aus einem Stakkato sehr unangenehmer Überraschungen bestand. Die Union ist von der Euro-Krise überrascht worden, vom Aufkommen der AfD, von der riesigen Zahl der Flüchtlinge, von Putins Überfall auf die Ukraine samt Annexion der Krim, vom Rechtsruck in halb Europa, vom Brexit, von der Wahl Donald Trumps, von der Intensität der Digitalisierung, vom Niedergang der Autoindustrie und überhaupt davon, dass der Klimawandel »plötzlich« ein derart drängendes Thema ist. Eigentlich gibt es kaum eine größere politische Entwicklung der vergangenen fünf Jahre, von der die Konservativen nicht überrascht wurden, sie ließen sich selbst durch das einstündige Video eines jungen Mannes mit blauen Haaren überrumpeln. Problematisch für Leute, deren Versprechen die Souveränität ist, die Kontrolle zu behalten, komme was wolle. Zur Bewahrung derjenigen Normalität, die man selbst verkörpert. Die Ereignisse aus dem Herbst 2015, als Angela Merkel die Grenzen für arabische Flüchtlinge nicht schloss, haben in manchen konservativen Sphären weniger aus rassistischer Motivation Bestürzung ausgelöst – sondern als Fanal des Kontrollverlustes.
Wenn aber ein Realitätsschock nach dem anderen die Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten erschüttert, dann entsteht ein Wandeldruck. Die konservative Selbstgenügsamkeit hat dagegen Abwehrmechanismen entwickelt, weil bürgerliche Mäßigung das Leitmotiv des Konservatismus ist. Deshalb gibt es auf den Wandeldruck aus konservativer Sicht nur drei verschiedene Antwortmöglichkeiten, und alle haben leider das Zeug dazu, die Krise des deutschen Konservatismus zu verstärken. Aber immerhin lassen sie sich mit drei urdeutschen Sprichworten beschreiben:
Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Schuster, bleib bei deinen Leisten.
In der Ruhe liegt die Kraft.
NICHTS WIRD SO HEISS GEGESSEN, WIE ES GEKOCHT WIRD
Wenn es um den Klimawandel geht, wird der Unterschied zwischen Rechten und Konservativen in Deutschland besonders deutlich. Rechte neigen (noch) dazu, den menschengemachten Klimawandel schlicht zu leugnen, um jede eigene Verantwortung oder gar Verhaltensänderungen abzuwehren. Konservative dagegen sind rational genug, um den Klimawandel als die Tatsache zu erkennen, die er ist. Aber sie bestreiten die Dringlichkeit. Konservativ zu sein bedeutet auch zu glauben, dass es so schlimm schon nicht kommen werde. Diese Selbstberuhigung ist in stabilen Friedenszeiten die Stärke des Konservatismus, weil sie die psychologische Grundlage für Freiheit und Wohlstand schafft: Ruhe als erste Bürgerpflicht, ohne die weder Verwaltung noch Wirtschaft anständig funktionieren. Das Motto, dass nichts so heiß gegessen wie gekocht werde, funktioniert sehr, sehr oft. Aber eben nicht immer, und speziell nicht im Fall von Realitätsschocks. Wenn man plötzlich in einem brennenden Haus erwacht, scheint es wenig ratsam, zunächst die gewohnte Morgenroutine auszuführen, um sich dann ganz in Ruhe zu überlegen, ob und wie man eventuell die Gesamtsituation neu bewerten muss. Es ist nicht so, dass alle Realitätsschocks grundsätzlich radikale Sofortmaßnahmen erfordern, und konservative Bedächtigkeit kann nach wie vor eine Stärke sein. Aber man muss in einer sich rasch verändernden Welt bereit sein, die eigenen Positionen und Prioritäten in Frage zu stellen. Die Krise der konservativen Parteien hängt eng mit ihrem Unwillen zusammen, sich auf neue Grundsätzlichkeiten einzulassen. Die konservative CDU-Nachwuchshoffnung im Kabinett, Jens Spahn, sagte in einem Interview Anfang 2018: »Konservativ zu sein heißt, die Geschwindigkeit von Veränderungen so zu reduzieren, dass sie erträglich sind.« Für uns Konservative erträglich sind, müsste Spahn anfügen, aber solche Einschränkungen auf die eigene Klientel muss man sich hinter praktisch jedem Leitsatz von Konservativen hinzudenken. Das sachlich ansonsten korrekte Zitat zeigt das größte Problem des Konservatismus in Zeiten des Realitätsschocks – der Wandel der Welt nimmt manchmal einfach keine Rücksicht auf die sensiblen Empfindungen der Konservativen. Und genau dann besteht für Konservative die große Gefahr der Ablösung von der messbaren Realität.
SCHUSTER, BLEIB BEI DEINEN LEISTEN
Wir sind nicht zuständig, wir können auch nicht alles machen, wir müssen uns auf unsere Stärken konzentrieren – die konservative Verantwortungsabwehr im Angesicht des Realitätsschocks kennt viele Geschmacksrichtungen. Die Aufforderung an den Schuster ist zugleich auch die Selbstvergewisserung, sich nicht um die Probleme anderer kümmern zu müssen. Wiederum ist der Vorzeige-Realitätsschock des Klimas gut geeignet, um die problematische Dimension dieser konservativen Sicht der Welt zu begreifen: Wenn Deutschland 2017 nur 2,3 Prozent des Treibhausgases CO2 ausstößt, warum sollte man dann bei der Reduktion Spitzenreiter werden? Die Antworten lautet unter anderem, dass die Pro-Kopf-Werte enorm hoch sind, nämlich doppelt so hoch wie der Weltdurchschnitt. Dass Deutschland der sechstgrößte CO2-Emittent der Welt ist. Und dass in dieser Rechnung zum Beispiel die Hunderte Millionen deutscher Automobile fehlen, die anderswo auf der Welt zum Klimawandel beitragen. Oder dass Deutschland mit Abstand die meiste Braunkohle fördert – weltweit, noch vor China, und dass deshalb die Hälfte des energiebedingten CO2-Ausstoßes durch diese schmutzigste aller fossilen Energieformen geschieht. Wenn man aus konservativer Sicht also dazu auffordert, bloß nicht zu übertreiben, ist das hier nur durch eine gezielte Beugung der Fakten möglich. Dabei droht der Konservatismus in seiner Reaktion auf einen Realitätsschock zu kippen, aus dem Wunsch der Mäßigung und der Konzentration auf die eigenen Stärken werden dann Scheuklappen. In der Hoffnung, dass man einen Brand, den man nicht sieht, auch nicht löschen muss. Die FDP ist zwar eigentlich eine liberale Partei, hat aber vor längerer Zeit durch eine Verwechslung von Bürgertum und Konservatismus einen inhaltlich konservativen Weg eingeschlagen. Das zeigt sich auch daran, dass sie Fortschritt fast nur noch als ökonomische Kategorie erkennen mag und sich gegen eine angebliche »Klimahysterie« als Hüterin des Dieselmotors inszeniert. Deshalb ist es passend, dass FDP-Chef Christian Lindner die denkbar konservativste Antwort auf die jugendlichen Aktivisten von Fridays for Future gab: Klimaschutz solle man doch den Profis überlassen. Schuster, bleib bei deinen Leisten – in klinisch-kristalliner Reinform. Und damit nichts anderes als die heutige Übersetzung des ewigen, konservativen Zitats des preußischen Innenministers Gustav von Rochow von 1837: »Es ziemt dem Untertanen (…) nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen.«
IN DER RUHE LIEGT DIE KRAFT
Die Beschwörung der Ruhe als wichtigste aller Gesellschaftsmaximen ist das konservative Mantra. Das ist auch Selbstzweck, weil die Bewahrung des Bewährten dann viel einfacher ist. Nicht umsonst spricht man von »Unruhen«, wenn Aufstand, Revolution und damit drastische Veränderungen in der Luft liegen. Für Konservative liegt in der Ruhe nicht nur die Kraft, sondern auch die Macht. Allerdings kann die Anordnung der Langsamkeit zu Zeiten größerer Realitätsschocks kontraproduktiv wirken. Wenn gezieltes Handeln notwendig ist, wird der Ruhe-Appell oft missbraucht, um am Ende ganz in Ruhe gar nichts zu tun. Konservative bringen dann Selbstverpflichtungen ins Spiel, setzen vorgeblich auf Einsicht oder auf die Kräfte des Marktes. Es handelt sich um zutiefst passive Reaktionen, um Geschehenlassen statt aktiven Handelns. Je drängen- der die realen Probleme werden, um so schwieriger wird es, sein Nichteingreifen zu rechtfertigen. Deshalb schleichen sich in Zeiten des Realitätsschocks in die Prinzipien des Konservatismus auch irritierende Fluchten vor der Realität ein – im 21. Jahrhundert zum Beispiel ein mystischer Glaube an Technologie. Beim Klimawandel lässt sich die Bedächtigkeit der Konservativen nur noch aufrechterhalten, wenn man überzeugt ist, dass schon ganz bald eine Lösung für die Probleme erfunden werden wird. Das schlägt sich auch ganz faktisch in der Politik nieder. Es ist nicht besonders bekannt, aber die Klimaziele des »Übereinkommens von Paris«, ohnehin geprägt von der Abwehrschlacht konservativer Parteien vor der wissenschaftlichen Evidenz, beinhalten die Entwicklung bisher unbekannter Technologien zur CO2-Reduktion. Ja, tatsächlich, in den wichtigsten Weltenplan zur Bekämpfung des Klimaschocks ist bereits eingepreist, dass irgendjemand demnächst eine Maschine erfindet, die das bisher Unmögliche endlich realisiert. Und dafür ist konservative Politik maßgeblich verantwortlich. Das ist nicht weit entfernt von magischem Denken, und alles nur, um die eigene Ruhe in der Gegenwart aufrecht erhalten zu können. »Beim Klimaschutz setze ich auf neue Technologien und Innovationen«, gab sich der Vorsitzende der Unionsfraktion Brinkhaus im Herbst 2019 zuversichtlich – ohne dass ein Grund für diese Zuversicht am Horizont erkennbar wäre.
Diese drei prototypischen Reaktionen des Konservatismus sind in Phasen der relativen Konstanz vorteilhaft. Eine solche Zeit herrscht derzeit gewiss nicht, und es deutet wenig darauf hin, dass sich der Weltenlauf demnächst beruhigt. Deshalb hat es etwas zutiefst Gespenstisches, zu welchen Autosuggestionen der Konservatismus selbst im Angesicht großer Bedrohung fähig ist. Und auch, zu welcher Schuldzuweisung. Selbstgerechtigkeit ist eine Begleiterscheinung der Überzeugung, sich für die Welt zu halten. Aus konservativer Perspektive ist es deshalb stets etwas wahrscheinlicher, dass Dritte die Schuld tragen und nicht etwa man selbst. Angela Merkel hat Ende September 2019 beim UN-Klimagipfel in New York eine Antwort auf die eindringliche Rede von Greta Thunberg gegeben. Die Bundeskanzlerin lobte das Engagement der jungen Schwedin – aber tadelte zugleich. Weil in Gretas Vortrag »… aus meiner Sicht nicht ausreichend zum Ausdruck kam, in welcher Weise Technologie, Innovation gerade im Energiebereich, aber auch im Energieeinsparbereich uns Möglichkeiten eröffnet, die Ziele zu erreichen«. Das ist grotesk. Es ist die Aufgabe der mächtigsten Frau der Welt, politisch zu organisieren, wie Klimaziele erreicht werden können. Die Abwälzung dieser Verantwortung auf eine sechzehnjährige Aktivistin ist eine dreiste Unverschämtheit. Merkel fügt an: »Ich messe Innovation und Technologie eine sehr große Bedeutung bei. Das ist ein Widerspruch [zu Gretas Rede].« Selbst als promovierte Physikerin hängt Merkel dem konservativen Glauben an die künftige Wunderwirkung der Technologie an. Aber nicht um der Technologie selbst willen, sondern als Ausrede, um den drängendsten Problemen der Gegenwart nur mit halber Kraft zu begegnen.
Die Einleitung in diesem Buch enthält bereits einen Hinweis auf den Realitätsschock der Parteien, der durch das berühmte Video mit dem Namen »Die Zerstörung der CDU« erneut sichtbar wurde: die kolossale Hilflosigkeit der Union im Umgang mit der blauhaarigen Generalattacke. Viel, viel später findet die Union dann doch noch eine Antwort auf Rezo. Es ist nicht das mittlerweile legendäre, weil nie veröffentlichte Video des CDU-Nachwuchsstars Philipp Amthor. Die Bundestagsfraktion der CSU veröffentlicht Ende August 2019 ein Video als Auftakt zu einer Reihe namens CSYou. Der CSU-Kommunikationsreferent Armin Petschner tritt als Präsentator eines knapp fünfminütigen Videos zu Gretas und Rezos Thema Klimawandel auf. Das Video wird von der angepeilten Zielgruppe, der Youtube-Jugend, mehrheitlich in der Luft zerrissen. Einen Monat nach der Veröffentlichung hat es rund fünftausend positive Bewertungen – und über zweihunderttausend negative. Obwohl die CSU kritische Kommentare löscht, betrachtet die Partei das Video als Erfolg. Schließlich habe es »eine Diskussion ausgelöst« und über eine Million Abrufe erreicht. Ja, mit Waterloo hat Napoleon in Frankreich sicher auch Diskussionen ausgelöst. Solche definitorischen Winkelzüge zur Verschleierung des eigenen, katastrophalen Scheiterns gehören nicht nur zum Standardrepertoire konservativer Selbstgerechtigkeit. Sie fügen sich auch nahtlos in die Sicht konservativer Parteien auf soziale Medien ein. Der Strategieberater Jens Scholz entlarvt auf seinem Blog diese konservative Strategie: »Es ist nur eine reine Contentsimulation«. Er skizziert, wie die Imitation der Ästhetik über die Inhaltslosigkeit hinwegtäuschen soll. Das Neue, der Wandel, wird allein als veränderte Form betrachtet und nicht als neuer Inhalt. Petschner hatte sich die Haare blondiert, ahmte trotz erheblicher Dreißigjährigkeit plump Jugendsprache nach und ließ im Video schnelle Schnitte und bunte Visuals aufblitzen. Scholz schreibt: »Es reicht ja, Format, Tonalität, Optik und Stilmittel zu kopieren, um einem Ding ein Gegending hinzustellen. In ihrer Welt ist der Score jetzt ausgeglichen und man kann sich wieder schlafen legen.« Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.
REALITÄTSSCHOCK DER PARTEIEN
Die Hilflosigkeit der traditionellen Parteien in Zeiten des Wandels ist nicht nur für den Abstieg vieler großer, alter Parteien verantwortlich, sondern auch für den Aufstieg erfolgreicher Parteien. Denn bezeichnenderweise gewinnen insbesondere Parteien und Politiker, die versprechen, die verschiedenen Formen des Wandels aufzuhalten oder gar zurückdrehen zu können – Make America Great Again. Obwohl man die beiden Parteien sonst kaum vergleichen kann, gilt das in Deutschland parallel für die demokratischen Grünen wie für die rechtsextreme AfD. Die Grünen können der Hilflosigkeit glaubwürdig entgegensetzen, schon sehr lange gegen den Klimawandel zu kämpfen. Die AfD agitiert in rechtsextremer Weise gegen den Wandel hin zu einer offeneren, moderneren Gesellschaft. Der Erfolg beider Parteien lässt sich auch dadurch erklären: Sie bieten als Kern ihrer Politik einen klaren, unerbittlichen Umgang mit dem für ihre Klientel wichtigsten Wandel an. Sie bieten Eindeutigkeit, wo die anderen Parteien vor der Komplexität ins Schlingern geraten. Sie setzen die eigenen Werte über das bloße Hinnehmen der Gegenwart und zimmern daraus eine für die eigenen Anhänger funktionierende Vision. Auch wenn es sich im Fall der AfD um die menschenfeindliche, rassistische, antidemokratische Vision einer homogenen Gesellschaft handelt. Die Grünen, die andere erfolgreiche, aber demokratische Partei, taugen durchaus als Vorbild bei der Lösung des Problems. Nicht, dass ihre Politik einfach zu kopieren wäre – aber ihre Überzeugung, Gewissheit und Klarheit bei ihrem wichtigsten Themengebiet schon.
Auf diese Weise entkommen sie der Hilflosigkeitsfalle, durch die sich Union, SPD, Linkspartei und FDP auszeichnen. Die Hilflosigkeit der Parteien kann letztlich sogar ihre Substanz zerstören, weil sie das Gegenteil verkörpern sollten, nämlich Gestaltungsmacht. Wenn das Publikum erkennt, dass die behauptete Stärke eher eine Pose ist, wendet es sich ab und aus dem Realitätsschock der Parteien wird womöglich eine kaum heilbare Krise der repräsentativen Demokratie. Und doch gibt es trotz der Krisen der Institutionen, der linken und der konservativen Parteien ganz zum Schluss Grund zur Hoffnung. Der Hausphilosoph des Deutschseins im Schlechten wie im Guten, Friedrich Nietzsche, schrieb: »Alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt.« Wenn irgendetwas die Macht hat, dieses eherne Gesetz Deutschlands zu durchbrechen – dann ist es der Realitätsschock.